Die erste Kastanie zwischen den Fingern – jedes Jahr ein kleines Wunder und Freudenfest. Ich war nicht darauf vorbereitet. Sie lag einfach da. Ich halte an und mache einen Umweg um den Baum. Ich schiebe mit dem Fuß das Laub zur Seite. Auf der Suche. Früher warfen wir Äste in den Baum, um mehr zu ernten.
Sie, die Kastanie, rollt nun hin und her, glänzt wie frisch lackiert – ein Vorbote des Herbstes.
Herbst ist, wenn die Sonne ihre Kraft verliert.
Herbst ist, wenn die Schulkinder bei Nebel an der Bushaltestelle warten.
Herbst ist, wenn das Freibad schließt.
Herbst ist, wenn die Bäume Farbe verlieren.
Herbst ist, wenn es merklich früher dunkel wird.
Wenn das Jahr sich verneigt – und sich meine innere Uhr langsam auf Kerzenschein umstellt. Und trotzdem: ich freue mich.
Vielleicht, weil ich ein Herbstmensch bin. Wenn ich wählen müsste, würde der Herbst gewinnen. Ich mag sie alle – Frühling, Sommer, Winter –, aber nur der Herbst traut sich, Gegensätze auszuspielen: loslassen, runterfahren, verwandeln.
Die Kastanie in der Hand: Man sagt, sie helfe gegen Rheuma. Man sagt viel, wenn die Finger kalt sind. Aber sie fühlt sich gut an. Ein zarter Film auf der Haut, feucht, frisch.
Die Kastanie trägt ihren Nabel – ein Erinnerungsfleck an das, was sie gehalten hat. Je heller, desto jünger aus dem Stachelanzug geschlüpft. Jung, weich, lebendig – bis sie Wochen später in meiner Hosentasche wieder auftaucht: hart, runzelig, fast schwarz. Kein Drama. Keine Beerdigung. Zurück in die Natur. Unspektakulär. Genau richtig.
Als Kind war sie Bastelmaterial. Löcher bohren, Streichholzbeinchen, Uhu an den Fingern, mehr Kleber an mir als am Tier. Nach drei Tagen erledigt. Vermisst? Kaum. Vielleicht hätte ich sie besser gleich angezündet, denke ich mir manchmal. Ich war nie der Basteltyp.
Heute bleibt die Kastanie, was sie ist: ein stiller Handschmeichler, ein kleiner Herbstgruß. Und jedes Jahr aufs Neue: die erste Kastanie zwischen den Fingern spüren. Etwas Besonderes. Immer.
