Ich sitze am Küchentisch. Das große Fenster ermöglicht mir den Blick auf meine Straße. Ich sitze nicht dem Fenster zugewandt. Aber eine kleine Kopfdrehung nach rechts verschafft mir Überblick über einen kleinen Bereich „meiner“ Straße. Eine Straße in der wenig los ist, bis gar nix. Ich wohne gerne hier.
Alles im Rhythmus. Ich sehe Menschen die zu sehr ähnlichen, fast gleichen Zeiten durch die Straße laufen oder aus ihren Garagen heraus kurven. Täglich. Außer Sonntag.
Nicht dass ich das Super-Eye bin, der alles abspeichert und spioniert. Aber ich habe ein Gefühl und ein Erinnerungsvermögen für Wiederholungen. Manche Menschen nennen es Rituale. Obwohl ich mir nicht sicher bin ob Menschen Automationen als Rituale wahrnehmen. Da eher unbewusst. Und freue mich daran. Selbst wenn eine lange Zeit dazwischen sein sollte. Und ich vermisse es, wenn solche Abläufe unterbrochen sind, gar enden.
Die Mutter, die dem Kind auf dem Weg zum Kindergarten hinterherrennt. Die Frau mit ihrem Hunden und den schwarzen Adidas-Turnschuhen mit pinker Sohle. Menschen auf dem Weg zum Einkauf (P. dreimal täglich immer den Korb unterm rechten Arm eingeklemmt). Und vieles andere mehr.

Alles außerhalb dieses von mir gespeicherten Ablaufes fällt zumindest auf. Was in Dorfgemeinschaften ja auch negativ ausgelegt werden kann. Positiv ist, dass man auf sich gegenseitig aufpasst.

Kommt diese Pärchen angeschlichen. Also Mann und Frau. Beide jünger. Keine Ahnung ob sie es sind, ein Paar meine ich. Kurzer Blickkontakt. Wer darf, besser muss. Der Mann. Sie läuft weiter. Wie Zeugen Jehovas sahen die beiden nicht aus. So zwischen leger gekleidet und ungepflegt.

Ich wusste natürlich schon was jetzt kommen wird. Nur nicht inhaltlich. Verstecken zu spät. Er stolpert in Richtung meines Fensters. Mustert mich und greift sich mit der linken Hand an seine Eier. Also sein Gemächt, die äußeren Genitalien des Mannes.
OK. Tief durchatmen. Keine Ahnung ob das eine tiefenpsychologische Bedeutung hat. Verarbeiten von Unsicherheit. Oder „du Arschgesicht“. Oder „Scheiss-Job.“ Als Gesprächseinstieg eher ungeeignet. Dementsprechend reserviert war ich.
ER: Erzählt was von Zirkus und Corona in saloppen traurig fröhlichen Worten. Und streckt mir, vermutlich, seinen abgelaufenen Schülerausweis entgegen. Landläufig die Legitimation um an fremden Türen zu klingeln. So von der Dauer von maximal 3 Sekunden.
ICH: Bin ebenfalls von Corona gebeutelt, erwidere ich ihm. Kurz und knapp. Manchmal habe ich – je nach Lust und Laune – eine Strategie von möglichen Antworten auf Fragen. Auch gerne mal abwechseln und ausprobierend. Meist freundlich.
ER: Wir bieten auch Hilfsarbeiten wie Maler- und Gartenarbeiten an.
ICH: Zucke mit den Schultern. Macht mein Problem nicht kleiner. Klingt egoistisch, aber er versteht was ich meine mit Geldspende und so. Und das hier nichts zu holen ist.

Er dreht sich weg und macht noch einen kleinen skeptisch kritischen abfälligen Rundumblick. Ich überlege noch kurz ein freundliches aber bestimmtes „ich möchte keine Ziege in einem Piss-Zirkus sein, der vor drittklassigen Möbelhäusern und Festplätzen von Kack-Dörfern ihr Dasein verbringen muss. Mein Verständnis von Leben ist ein anderes“ hinterher zurufen.
Lass es dann aber doch lieber sein. Das Business des Klingelns an fremden Haustüren des Geldes wegen, ist eine miese menschenunwürdige Aufgabe. Und der Griff an die Eier, maximal in der Manege eine billige clowneske Aktion für einen billigen Lacher vor billigen Menschen.
Ich schaue aus dem Fenster. Heute ist ruhig. Bisher.