„Jetzt sehen wir uns wieder“, sage ich voll Freude. Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Stunden. Er kommt mir auf dem Bahnsteig entgegen. Mit dem linken Arm eingehängt in den rechten Arm seiner Begleiterin. Ob es seine Frau ist? In der rechten Hand einen Stock. Wie, als wir uns zum ersten Mal sahen, wenige Stunden zuvor. Ich bleibe stehen. Er dreht den Kopf zu mir. Dann lacht er und sagt nach einer kurzen Pause der Überlegung „ja, sehen wir uns wieder. Sehend.“ Die Beiden bleiben ebenfalls stehen. Die Frau auf seiner Linken drängt still zum Weitergehen. Es scheint, ihr ist die Sache nicht geheuer. Ihre Mimik zeigt wenig Reaktion. Nach einer weiteren kurzen Zeit sagt er „ein lustiges Wortspiel“. Verrückt. Obwohl wir wenige Worte gewechselt, einmal gesehen, habe ich das Gefühl, dass er mich erkannt hat. Die Stimme. Ich muss mich nicht erklären. Wow.

Sein weißer Langstock tastet entlang der im Alltag unbeachteten Rillenpflaster. Der Mann ist blind. Die Pflaster sind an Haltestellen zur Orientierung und Navigation angebracht. Man nennt sie taktile Bodenleitsysteme.

Einen Fremden anzusprechen, ist nicht so meine Sache. Einen blinden Menschen auch nicht. Erst recht nicht. Das hat mit dem Recht auf des in-Ruhe-gelassen-werdens zu tun. Weniger wegen Menschenfeindlichkeit oder Unsicherheit. Die Wortwahl „sehen“ ein gewagtes Spiel. Kurz überlegt. Können? Dürfen? Sollen? Wagen, denke ich.

Die Unbekümmertheit des Lebens ausnutzen. Es gibt nichts zu verlieren. Nichts. Vielleicht eine Reaktion der Verwunderung. Menschen anders zu begegnen als gewohnt. Den üblichen Weg verlassen. Ungewohnt. Überraschend. Die Fröhlichkeit liegt im Tonfall der Sprache. Ich meine es ja gut. Und sollten wir Menschen mit einem Handicap nicht so behandeln, wie die Müllers, Maiers und die Schmidts? Höflich. Wertschätzend. Normal eben.

Das ist dieses „etwas“ an diesem Moment. Warum es sich lohnt darüber zu schreiben. Eben jemanden nicht zu übersehen. Frontal. Wenn es die Situation ergibt. Natürlich. Sonst nicht. Und wenn du gut drauf bist. Das bin ich.

Wenige Stunden zuvor. Treffpunkt der Critical Mass in Stuttgart. Feuersee. Hunderte von Radfahrern versammeln sich um gemeinsam zu radeln. Die Straßen dicht. Die gewohnten Laufwege teilweise blockiert. 

Wenn auf einmal alles anders ist, bringt das Ungewohnte Überraschungen mit sich. Paar Meter vor mir versucht ein Paar sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Er eingehängt mit dem linken Arm in den rechten Arm der Frau. Nicht ungewöhnlich. Mit dem rechten Arm führt er einen Stock vor sich her. Ich ebne den beiden ein kleines Spalier durch den Radpark. Er läuft vorbei und fragt, ob das der Weg zur Haltestelle wäre. Ich bejahe. Nur noch wenige Schritte bis.

Er bleibt stehen. Sie wohl-er-der-übel auch. Ihr ist die Sache nicht ganz geheuer, scheint mir. Interessiert fragt er, was hier los wäre. Ich erkläre und lade ein mitzumachen. Ein Tandem habe er. Na prima, sage ich. Dann sehen wir uns im nächsten Monat. Erster Freitag. Achtzehndreißig.

Ich würde ihn kutschieren, denke ich während ich diese Zeilen schreibe. Wir sehen uns wieder. Der Blinde und ich. Verrückt. 

Name? Ungefragt. Gefühlt zu offensiv. Zu frontal. Es ergibt sich. Oder nicht. Mal sehen…