Zahnarztpraxis. »Bitte nehmen Sie im Wartezimmer platz«. Wartezimmer. Lebenszeiträuber Nummer 1. Was ein deprimierender Name für einen Raum. Lieber Carport als Garage. Gehen um zu Warten. Eng verbunden mit Langeweile. Platz nehmen. Wie ich diese Worte der freundlichen Sprechstundenhilfe liebe (#ironie). Ich weiss nicht, ob diese Berufsbezeichnung politisch korrekt ist. Vielleicht sagt man auch Dentist-Health-Care-Manager. Egal. Klingt ähnlich der Aussage der Spedition-Hotline (auch freundlich), dass der LKW unterwegs ist. Bedeutet, der kommt zwischen 8 und 20 Uhr. An einem beliebigen Tag. Halten Sie sich mal bereit. Und halten Sie durch, was nicht gesagt wird.
Ich mache mich auf den Weg.
Wartezimmer. Hoffend, dass niemand im Wartezimmer sitzt. Wenn du großes Pech hast, ist nichtmal ein Stuhl frei. Heute: Sagen wir mal so, Zwei von Acht.
Was ist taktisch der beste Platz. Spontane Entscheidung. Fifty-Fifty. Du kannst mega Pech haben. Ich entscheide mich für einen Außenplatz.
Sage »Hallo« und setze mich. Entfalte meine mitgebrachte (ganz wichtig) Zeitung und beginne zu lesen.
Regel 1: Don’t touch Zeitungen, Magazine in Wartezimmer wenn dir deine Gesundheit lieb ist.
Beginne zu lesen. Schreibe Kurznachrichten auf meinem iPhone. Und noch eine. Noch eine. Ich habe A: Zeit und B: ist es schön mit Menschen in Kontakt zu sein. Sehr schön sogar. Und kurzweilig, wenn Kurznachrichten hin und her durch Raum und Zeit fliegen. Faszinierend und spannend. Kommunikation eben. Manchmal besser als sprechen. Bleibender.
Niemand sonst schreibt Kurznachrichten im Wartezimmer. Verpönt? Manchmal gibt es einen Hinweis, dass eine Handy-Nutzung nicht gewünscht ist. In unserem Wartezimmer stehen Engel und sitzen Menschen. Gemütliches Interieur. Ok, die Stühle sind Stühle und keine Lounge-Sessel. Ein Schild mit Hinweis habe ich nicht gesehen. Ich telefoniere ja nicht. Bin still und leise. Mit Ausnahme des Piepton beim Empfang einer Nachricht. Könnte ich abstellen. Könnte. Wenn du mehrere Dinge gleichzeitig tust eine Hilfe. Öffne den Browser und schaue die TieBreak-Finalpartie der Schach-Weltmeisterschaft. Spannend.

75 Minuten später, ohne dass es nur eine klitzekleine Bewegung im Wartezimmer gibt, sagt der mir gegenüber sitzende Mann, dass ihm sein Hintern vom Sitzen weh tut. An alle gerichtet. So einfach mal in den Raum gestellt. Alle fühlen mit ihm mit. Kopfnicken. Sich dehnen. Und die merkwürdige Stille bricht. Ich bin locker und entspannt. Nichts drückt oder ähnliches. Auch nicht mein Hintern. Es ist angenehm warm.

Es beginnt ein munteres miteinander reden. Ich rede. Schaue Schach. Schreibe Kurznachrichten, was ich natürlich nicht sage. Die Zeitung lese ich nicht mehr. Weggelegt auf meinen rechten Fuß. Griffbereit. Manchmal grinse und freue ich mich, ob der Antwort der Nachricht.
Nebenbei erzähle ich, dass ich gerade Schach-WM schaue. Was keinen im Raum sonderlich beeindruckt. Trotzdem wichtig dies zu erwähnen. Dass ich keine Daddelspiele mache sondern was intellektuelles. Fühle mich besser damit. Irgendwann sprechen wir dann auch über Schach, besser ich referiere darüber. Über die Faszination des Langwierigen, der Spannung wenn es dem Ende zugeht. Denke und erwähne dabei den 50km-Skilanglauf. Was ein Paradoxem im Wartezimmer. Die müssen mich für verrückt halten. Drücke meine Hoffnung aus, dass keiner der Anwesenden A: mir eine Frage stelle oder B: mir im Schachwissen überlegen ist. Ich wäre sofort matt gewesen. Mega matt. Habe vom Schach wenig Ahnung.

»Keine Angst, da kommt keine Frage«, so der Herr mir gegenüber, der dann irgendwann zu mir sagt, dass er meine Stimme kenne und jetzt hätte er ein Gesicht dazu. Überhaupt, er überlege nach Hause zu gehen. Hat sich einen schöneren Abend vorgestellt als im Wartezimmer verweilen bis der Hintern weh tut. Den zweiten Satzteil denke ich mir. Kurznachrichten hat er keine geschrieben. Hätte er vielleicht tun sollen. Sekunden später wird er von der freundlichen Time-Schedule-Assistentin aufgerufen. Fast verpasst er die Frage und freut sich, dass ich doch meine Frage bekomme. Die Antwort wartet er nicht ab und geht mit einem Art Torjubel, durch die Reihe in Richtung des Behandlungszimmers. Verhalte mich neutral. Bedaure aber, dass er doch nicht früher gegangen ist. Ich sehe ihn nie wieder.
Während das Wartezimmer sich langsam leert, bleiben ein älteres Ehepaar, der dritte Mann und ich übrig. Smalltalk über dies und das. Ich habe das Gefühl, dass sie nicht sprechen wollen. Nicht mit mir. Das Gesicht der Frau kommt mir bekannt vor. Lebe in einer Kleinstadt, wo man sich begegnet. Kann nicht zuordnen. Irgendwie gelingt es mir aber die beiden immer wieder ins Gespräch mit einzubeziehen. Freundlich. Sie haben einen Fahrer – der dritte Mann – dabei, der geduldig erträgt und nicht drängt. Wir haben einen gemeinsamen Bekannten. Das Ehepaar und ich werden gemeinsam aufgerufen. Obwohl ich gebeten habe, dass das Ehepaar gerne vor mir behandelt werden dürfe. Es ist der ältere Mann der behandelt wird. Kontrolle. Die ältere Frau in Begleitung. Und der Fahrer. Zu Dritt. Was ein Aufwand. Oder Fürsorge. Schön. Mir eilt nicht. Schaue Schach. Schreibe weiter Kurznachrichten.

Ein Freund erzählte mir kürzlich, dass er während eines vierwöchigen Urlaubsaufenthaltes um die 13.000 Kurznachrichten geschrieben habe. Verrückt. Ich in hundert Minuten Wartezeit 139. Die Zahnarztpraxis habe ich mittlerweile verlassen. Kurze Zeit später wird Magnus Carlsen erneut Weltmeister im Schachspiel.