Jungs, warum balanciert ihr an roten Ampeln auf dem Rad?
Damit könnt ihr euch doch nur peinlich machen. Oder?

Die Jungsantwort:

Liebe Mädchen,

Spackig?! Wir sehen spackig aus?! Einspruch! Falsch!
Das Gegenteil ist doch der Fall! Was man da an Ampeln erlebt, sind doch Menschen, die die Welt beherrschen. Die Maschine und Schwerkraft dominieren! Mit Kraft und Geschick gleichzeitig! Welch Machtdemonstration der Natur! Welch Unsinn natürlich auch. Aber in erhaben!

Tatsächlich glaube ich: Diese fünf Sekunden an der Ampel zeigen deutlich ein paar ziemlich grundsätzliche Unterschiede zwischen uns und euch.

Wenn wir aufs Fahrrad steigen, tun wir das zwar genau wie ihr in erster Linie, um von A nach B zu kommen. Aber während für euch offenbar zwischen A und B vor allem Unangenehmes wartet, offenbart sich für uns dort ein Spielplatz. Ihr müsst euch an der Ampel vom Großstadt-Radrennen erholen. Wir können es kaum erwarten, den Drängler auf dem Weg bis zur nächsten Ampel endlich abzuhängen. Wir wollen unseren eigenen Rekord auf dem täglichen Weg zur Uni brechen. Wir wollen schneller sein, als die Tram neben uns. Und da sollen wir an der Ampel Musik auswählen? Okay, das geht vielleicht grade noch, zur Erhöhung der Schlagzahl mittels eines alten Prodigy-Prügel-Songs oder so. Aber einfach rumstehen und in die Luft gucken? Oder gar lächeln? Nein. Wir balancieren in Startposition, um maximal schnell starten zu können. Wir an der Ampel: Das ist wie ein junger Hund, der vor Aufregung alles anspannt, weil er gecheckt hat, dass Herrchen die Leine von der Garderobe genommen hat und gleich mit ihm raus geht.

Unser ganzes Leben lang suchen wir uns unsere kleinen Kämpfe

Ihr merkt, es geht da auch um die Herausforderung. Das ist ja oft so bei uns, vermutlich, weil wir von Klein auf darauf getrimmt sind, uns mit anderen zu messen. Wir raufen mit Papa und später auf dem Schulhof. Wir rennen in Sportvereinen um die Wette, wir spielen gegeneinander Fifa auf der Playstation, wir veranstalten am See Steine-Weitwurf-Wettbewerbe. Unser ganzes Leben lang suchen wir uns unsere kleinen Kämpfe. Gegeneinander vor allem, so wie in den grade beschriebenen Beispielen. Aber wenn kein anderer da ist, auch gegen uns selbst. Oder gegen irgendwas, das grade da ist. Wie eine Ampel. Oder die Schwerkraft. Die ja schon ein ziemlicher Endgegner ist, wenn man mal drüber nachdenkt.

Aber da ist noch was: unsere Liebe zum Beherrschen eines Geräts wie einem Fahrrad. Wir wollen nicht einfach nur mit einem Fahrrad fahren. Wir wollen mit ihm verschmelzen. Könnte daran liegen, dass wir als Kinder zu viele Western gesehen haben, in denen Typen verliebt über ihre Waffe streichelten und sie fühlen mussten, um sie optimal zu benutzen. Und auch wenn mir klar ist, dass sich das bescheuert anhört, muss ich gestehen, dass es ein erhebendes Gefühl ist, wenn man das filigrane Zusammenspiel aus Bremsdruck und Pedal-Gegendruck so gut erspüren und austarieren kann, dass das Fahrrad steht, als wäre es eine Verlängerung der eigenen zwei Beine.

Vielleicht spielt auch noch was eine Rolle. Eine Sehnsucht. Nach früher, als wir noch jeden Tag spielen durften und keine erwachsenen Männer mimen mussten. Als Grasflecken auf den Jeans noch eine Auszeichnung waren und ein aufgeschlagenes Knie eine Trophäe. Vielleicht haben wir einfach den Abschied von unserem BMX-Rad aus der fünften Klasse nicht richtig verkraftet.

Quelle: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG | Von Lena Jakat und Christian Helten