Kurz einen Cappuccino trinken. Noch etwas Zeit haben. Sammeln für den nächsten Termin. Zu früh zum Termin kommen geht gar nicht. Lieber eine Bin-leider-zu-spät-Mitteilung, als eben zu früh. Ich für meinen Teil mag es nicht. Könnte auch daran liegen, dass ich immer etwas zu tun habe. Wir Schwaben kruschteln dann, wie wir im Nachhinein gerne betonen. Kleine Dinge. Es ist nicht so dass ich gelangweilt auf den Minutenzeiger starre. Kreisend um sich der Zeit zu nähern. Niemals zu früh.
Kurz einen Cappuccino trinken. In einem Café das in jeder Stadt sein könnte. Und Dorf. Die Deutschen haben was undeutsches entdeckt. Was früher den Italiener vorbehalten. Espresso-Bar. Hat lange gedauert bis es über die Alpen gefunden hat. Immer Menschen drin in den Café’s. Nie ein Leeres gesehen. Manchmal habe ich den Verdacht, dass es bezahlte Café-Besetzer gibt. Um Tische zu füllen. Den Einzigen. Menschen fühlen sich wohler wenn sie nicht einzig sind. Genießen, während draußen die Menschen über die Pflastersteine hetzen . Jagend nach was weiß ich. Bin auch einer von denen die scheinbar durch Fussgängerzonen fliegen. Kein deut besser. Flott unterwegs. Schlendern ist nicht mein Ding. Kein Rennen. Rennen geht anders. Frequenz und Schrittlänge.
Ist hier noch frei?, frage ich eine ältere Dame, die mir kurz darauf gegenüber sitzt. Erzählt mir im 3-Minuten-Zeitraffer ihre Geschichte. Handelt von Krankheit und dem Leben. Diabetes habe sie. Typ 1. Wie Kinder. Schon seit jungen Jahren. Ich beobachte die Beschäftigte an der Kaffeemaschine. Sagt man tatsächlich noch Bedienung? Muss sich zweimal täglich Insulin spritzen. Diese oder eine andere? Wer hat mir meinen Cappuccino zubereitet? In Gedanken. Denke ja. Nein nein. Was ist das für ein Leben. Was hilft gegen Unterzucker? Schon mal gehört. Cola? , meine Antwort. Sie zeigt mir ihren Traubenzucker, den sie immer griffbereit hat. Spanierin? Nein. Portugiesin? Schön. Groß. Schlank. Schwarze Haare. Zu einem Knoten hochgesteckt. Konzentriert mit einer femininen Würde bedient sie die silberne Cimbali, die von der Theke weg zeigt. Das Gegenteil von Übergewichtiger-zapft-Pils-und-schaut-gelangweilt-in-die-ihm-bekannte-Runde.
Was für ein Leben. Verwitwet. Will keine 20 Jahre mehr leben. Ältere Menschen sprechen davon, so als ob sie ihr Schicksal in den Händen hätten. Wie alt mag sie sein? 30? 35? Kaum älter. Dann wär ich 96 Jahre alt. Kommen sie zurecht oder müssen sie ihre Krankheit ertragen, frage ich. Ein Unterschied. Nur einen kurzen Augenkontakt mit den Kunden. Mehr ist nicht drin. Fragen. Kassieren. Ausgabe. Bestimmt, stolz und freundlich. Nur einmal hatte sie Unterzucker. Gut gegangen ohne fremde Hilfe. Nach wenigen Minuten würde sie in’s Koma fallen. Tödlich. War mir nie so bewusst. Trotz November im schwarzen Trägershirt. Ein Tattoo auf der Außenseite des linken Oberarmes. Richtig erkennen kann ich es nicht. Scheint nicht gewöhnlich. Schön. Passend. Neugierig machend. Nicht proll. Schmückend. Sie erzählt von ihrer Tochter, während ich den letzten Milchschaum aus meiner Tasse löffle. Ich verabschiede mich und wünsche artig und von Herzen Alles Gute – der älteren Dame. Stelle meine Tasse zu den Benutzten am Ende der Theke. Nahe der geradeaus stehenden Cimbali und doch weit weg. Vielleicht will ich doch hundert werden, ruft sie mir im gehen. Ich lächle und sage meine Lieblings-Trauerworte »sie starb hundertjährig bei bester Gesundheit völlig überraschend.« Sie lächelt. Nur die Dauer eines Cappuccinos. So intensiv wie das Leben. Ich verlasse die Bar. Die schöne Portugiesin nimmt keine Notiz von allem. Warum auch. Es beginnt zu regnen.
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