In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine unheimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied der Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt. (Aus: Max Frisch, Du sollst dir kein Bildnis machen!, 1981)
Zachäus. Zolleinnehmer. Von kleiner Gestalt. Gesellschaftlich isoliert, weil er seinen Lebensunterhalt mit überhöhten Forderungen und Unterschlagungen bestreiten muss. Aus religiöser Sicht ein Gesetzesbrecher. Gefesselt und erwürgt.
Lukas stellt in seinen Schriften heraus, dass Gesetze und Vorschriften ihren Platz haben, aber letzten Endes nur Trennlinien beschreiben und Übertretungen verdeutlichen. Ein frei setzendes oder gar gestalterisches Potential bergen sie nicht, denn ein solches ereignet sich erst, wo und wenn ich Christus in mir und durch mich wirken lasse. Sein vorrangiges Anliegen besteht darin, dem Verlorenen, aus der Bahn Geworfenen und an den Rand Geratenen die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Wo also sein Geist Raum gewinnt, ist vieles zunächst Undenkbare möglich. So kann Integration, des/der Einzelnen mit Gott, der Gesellschaft und mit sich selbst, gelingen.
Die Zachäus Geschichte macht deutlich, wie Gottes Option für das Verlorene in seine Option für die Versöhnung mündet. Letztlich geht es um Zusammenhalt und Gemeinschaft in der Gesellschaft. Welche Dringlichkeit beide Optionen haben, zeigt Jesu Umgang mit Zachäus. Jesus ist liebevoll und provokant zugleich. Weniger geht es Lukas um „hören“ und „glauben“ als darum Begegnungen zu schildern, aus denen Gemeinschaft wächst, der Mensch zur Liebe befreit wird. Im Aufeinandertreffen verschiedenster Bevölkerungsgruppen mit ihren Ängsten und Klischees ergeben sich neue Brücken und Abgrenzungen, wird umgeworfen und verwandelt, was zuvor als abgesichert und unumstößlich galt.
Quelle & Inspiration: ePistel/J.Feldes
Die Bibel: Evangelium des Lukas, Kapitel 19,1-10
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