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In den Augen des Frankfurter Philosophen Martin Seel ist Fußball ein »Mysterium der Kontingenz«, und damit meint er: »Im Fußballspiel könnte alles auch ganz anders sein. Niemand kann sagen, wohin und zu wem der Ball gerade springt, er ist immer auf Abwegen, er ist wild und unberechenbar, unbestimmbar und unvorhersehbar. Das Ungewisse und Zufällige bilden das Geheimnis des Mannschaftsspiels. Erwartbar ist nur das Unerwartbare.«
Die Pointe liegt hier gewissermaßen auf dem Fuß: Damit die Anarchie des »abwegigen« Balls ins Rollen kommt, braucht es eine feste Regel. Die Regel ist gleichsam die Bedingung für das Regellose, für all das Unerwartete, Zufällige und Spektakuläre in einem Spiel. Damit alles immer anders wird, muss die Regel gleich bleiben, und was immer an Unvorhergesehenem auch geschehen mag: Nach 90 Minuten ist das Spiel in der Regel zu Ende. Selbst ein Foul setzt die Regel nur scheinbar außer Kraft, denn sobald es der Schiedsrichter ahndet (Rote Karte!), bestätigt er die Regel. So begrenzt das Reguläre das Irreguläre, und das Foul bleibt die Ausnahme. Sollte der Schiedsrichter sich irren, dann blüht ihm ein Pfeifkonzert, und man möchte in der Regel nicht mit ihm tauschen.
Die Fußballverantwortlichen legen einen großen Ehrgeiz an den Tag, um auch noch die letzten Ungewissheiten gewissenhaft aus der Welt zu schaffen. Mit viel Aufwand verkleinern sie die Irrtumsspielräume des Schiedsrichters und statten ihn mit päpstlicher Unfehlbarkeit aus. Gerade wurde die Torlinienkamera eingeführt, eines Tages werden Schiedsrichter vielleicht mit einer ferngesteuerten Video-Kopfkamera über das Spielfeld rennen. Anders als in der Welt draußen soll in der geregelten Anarchie des Fußballs absolute Klarheit herrschen. Kein Zweifel darf im Zuschauer zurückbleiben, eine Schiedsrichterentscheidung muss gleichsam amtlich sein: Sie darf nicht auf einer subjektiven Einschätzung, sie muss auf einer objektiven Tatsache beruhen. Mit anderen Worten: Fußball ist für den Zuschauer nicht nur eine illusionäre Abkehr von der Wirklichkeit, nicht nur eine Flucht auf das schönste Gegenspielfeld der Welt. Ein Fußballspiel fasziniert die Menschen, weil es einen tiefen Wunsch befriedigt: den Wunsch nach einer Welt, in der es turbulent, aufregend und überraschend zugeht – ohne dass die Anarchie der Ereignisse die Grundnormen zerstört und die Regeln der Zivilisation auflöst. Gewiss, so ist es derzeit nicht. Die Weltgesellschaft ist chaotisch, während es »auf’m Platz« immer ordentlicher zugehen soll.

Quelle: Thomas Assheuer | DIE ZEIT #1/2015