Was Jeremia da von seinen Landsleuten erwartet, ist im Grunde genommen kaum zu vermitteln. Man stelle sich vor, er hätte einen solchen Brief an Gilad Shalit geschrieben, den israelischen Soldaten, der verschleppt und fünf Jahre lang in Palästina gefangen gehalten worden ist. Vor ein paar Monaten wurde er frei gelassen, im Gegenzug kamen über 1000 Palästinenser frei. Gerade hat Shalit sein erstes öffentliches Interview über die Zeit seiner Gefangennahme gegeben. Und natürlich ist diese Gefangenschaft nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Aber wie wäre es ihm ergangen, hätte er Jeremias Zeilen lesen müssen? Schließlich fordert der Prophet nichts anderes, als sich mit der Deportation und der Gefangenschaft abzufinden. Ja mehr noch: Er verlangt von den Verschleppten, für ihre Peiniger zu beten! Jenen, die ihnen ihre Heimat genommen haben, die für viel Elend und Trauer unter den Israeliten verantwortlich sind, soll man den Frieden wünschen?! Und wie reagieren wohl die Daheimgebliebenen auf solche Zeilen? Haben sie Verständnis dafür? Hätte Shalits Familie Verständnis dafür gehabt? Ich kann mir das kaum vorstellen.
Ähnlich Unvorstellbares hat auch Jesus eingefordert. Jeremias Worte erinnern mich doch stark an Matthäus 5, Vers 44: „Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen.“ Solche Worte sind unerträglich, gerade für jene, die konkret davon betroffen sind, also Menschen, die unter der Feindschaft anderer leiden. Mir fällt da Amanda Todd ein, die 15jährige, die sich das Leben genommen hat, nachdem sie durch das Internet gemobbt wurde. Ihre Hilferufe hat sie zuvor auf Youtube veröffentlicht und damit ein bleibendes, warnendes Vermächtnis hinterlassen. Wer kann von ihr, von ihren Angehörigen verlangen, für die Feinde zu beten, die sie in den Tod getrieben haben?! Wer kann ihr und ihren Angehörigen zumuten, ihnen Frieden zu wünschen?! Niemand, nicht einmal Jesus! Denn das ist unmenschlich, das geht weit über das hinaus, was man einem Menschen abverlangen kann. In unserer Welt bleibt so viel Schuld ungesühnt, da kann man die Leidtragenden unmöglich auch noch mit einer Forderung belasten, die sie nicht erfüllen können.
Und doch stehen diese Worte im Alten wie im Neuen Testament. Und weder Jeremia noch Jesus waren unverbesserliche Utopisten, die irgendwelchen weltfremden Träumereien nachhingen. Es muss also eine tiefere Wahrheit darin liegen, über das Gebot der Nächsten- und Gottesliebe hinauszugehen. Frage ich mich, welche Voraussetzung erfüllt sein muss, um für den Feind beten, ja ihn lieben zu können, dann fällt mir nur eines ein: Vergebung! Denn ohne Vergebung bleibt mir der Blick auf den Menschen, der mein Feind nun einmal auch ist, versperrt. Es ist einfacher, jemanden zu hassen, wenn man in ihm nicht ein menschliches Wesen, sondern ein „Monster“ sieht. Ungleich schwerer ist es dagegen bei jemanden, den man kennt. Vergebung fängt also mit dem Kennenlernen an. Das kann dauern, Jahre, Jahrzehnte, ja mehrere Generationen lang. Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Chance erhalten, sich mit seinen ehemaligen Feinden auszusöhnen – ein Prozess, der bis heute andauert. Und der nur deshalb funktionieren kann, weil man Grenzen überwunden hat und sich näher gekommen ist, gerade auch auf der persönlichen Ebene.
70 Jahre Exil mutet Gott den Weggeführten zu. Eine lange Zeit, die die Gefangenen nicht nur überleben, sondern leben sollen. Jeremia gibt ihnen nicht nur eine Perspektive, er gibt ihnen auch eine Aufgabe. Auf ihre Weise leisten sie Versöhnungsarbeit. Es mag paradox klingen, aber damit befreit der Prophet seine Landsleute aus der Passivität der Gefangenschaft, er führt sie aus der Opferrolle heraus, indem er sie auffordert, ihr Schicksal nicht zu erdulden, sondern zu gestalten. Ob ihnen das gelingt? Es ist wohl die einzige Chance, selbst Frieden zu finden. Denn das ist das eigentlich Ziel, darauf will Jeremia hinaus. Wenige Worte benötigt er, um eine unerhörte Wahrheit offen zu legen: „in ihrem Frieden werdet auch ihr Frieden haben“. Das gilt für ganze Völker wie für den einzelnen Menschen gleichermaßen. „Vater, vergib ihnen …“ Jesus selbst hat am Kreuz hängend diesen Weg gewählt. Es ist der einzige, der uns Menschen bleibt, wenn wir uns nach Frieden sehnen.
Quelle: ePistel
Die Bibel: Jeremia 29, 1.4-7.10-14
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