Tore, Maria und Josef _ VI

Veröffentlicht in 28. Dezember 2020

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen

„Zähne putzen, Salve Gente!“
Wenn eine Geschichte fertig erzählt ist. Ein Buch gelesen. Der letzte Ton gespielt und der Abspann im Film beginnt, ist oft eine Leere. Die Kunst des Träumens hinter sich zu lassen. Sich sammeln und wieder ins Jetzt zurückkommen. Ein Griff in die Keksdose. Eine frische Tasse wärmenden Kräutertee. Oder der Appell „Hallo Leute, Zähne putzen“, was Opa Tore dann gerne für sich unter der Rubrik Opa-To- res-Lebensweisheiten teilen, verbucht. Opa Tore ist ein Künstler darin, eine ver- träumte Zeit zu beenden und die Romantik auszubremsen. Was Oma Geli immer ein wenig an ihm bedauerte. Der Ruf „F a h r k a r t e n k o n t r o l l e“, beendet in der Eisenbahn schlagartig das Landschaften-vorbeifliegen-sehen und das gedankenlos-aus-der-Scheibe-schauen.

„Zähne putzen, Salve Gente!“

„Eigentlich der Anfang von etwas“, fügt Opa Tore der Geschichte noch hinzu. Er schildert in kurzen Worten, wie die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Anfänglich vor 65 Jahren aus Italien, dann vor 50 Jahren aus der Türkei. „Die Gastarbeiter wurden angeworben, weil in es Deutschland einen Arbeitskräftemangel gab“. Viele fanden hier für sich und ihre Familien eine neue Heimat.

Opa Tore erzählt, wie er sich auf den Weg in ein unbekanntes Land machte, um Arbeit zu finden. Wie er mit der Eisenbahn zur Arbeit fuhr. Abends wieder heim. Wie er sich Bahnhofsnamen auswendig lernte, um an der richtigen Station auszusteigen. Damals konnte er kaum deutsch sprechen und kaum lesen. Er erzählt von seiner ersten Fahrt unterwegs zum Einstellungsgespräch. Von seiner Nervosität. Als ihn jemand nach seiner Fahrkarte fragte. Es war Walter Mörskemper. Am nächsten Tag wieder. Und am Übernächsten. Wochenlang. Seine Fahrkarte musste er irgend- wann nicht mehr zeigen. Zeitkarten mussten nicht entwertet werden. Und der Schaffner kannte ihn ja. Jemanden kennen. So ein Wortspiel von bedeutender und unbedeutender Größe. Wenn Walter mit der Kontrolle durch war, setzte er sich – mal kurz – mal etwas länger zu Tore. Tore schrieb Walters Worte, neue Begriffe in sein kleines Notizbüchlein. Immer wieder war es ihm eine große Hilfe, Menschen und die Sprache verstehen zu lernen.

„Man muss im Leben nicht immer auf der Suche nach dem wieso sein“, – auch eine der Lebensweisheiten von Opa Tore. Walter und Tore wurden Freunde. Walter steckte Tore mit seiner Eisenbahn-Leidenschaft an, bis Opa Tore selber ein Eisen- bahner wurde.

„Und Josef?“ fragt Lilli.

Opa Tore erzählt die Begegnung mit Josef, dessen richtiger Name ja Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya war. „Schön, dass Sie hier sind. Wohin des Weges“. Maurice streckte ihm seine Fahrkarte entgegen, meinte er zumindest. Es war sein mauretanischer Reisepass. Dunkelblau mit Schriftzeichen in zwei Sprachen. Aufgedruckt in goldener Farbe. Maurice hatte seinen Pass gedankenlos mit der Fahrkarte verwechselte. „Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya“, murmelte Opa Tore. „Das ist ja schön, aber zeigen Sie mir trotzdem lieber ihre Fahrkarte“. „Oh Entschuldigung“ und reichte ihm diese nach. Opa Tore liebevoll neugierig, fragte nach mehr und bekam Antworten. Wie so oft. Maurice war auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch und aufgeregt. Auf dem Heimweg begegneten sie sich wieder. Maurice hatte die Zusage für die Arbeitsstelle in der Tasche. Er wurde Volontär bei einer kleinen regionalen Zeitung in der hohenlohischen Provinz. Er nannte sich Josef. Einfach nur Josef. Ohne Familienname, der ja auch viel zu lang gewesen wäre. Benannt nach seinem Vater, der der einzigste Josef in ganz Mauretanien war. In seinen Artikeln stand dann immer „geschrieben von Josef“.

„Wie, der einzigste Josef?“ bohrte Finn weiter. Ungeduldig wie Kinder eben Fragen stellen, wenn in Geschichten Ungereimtheiten vorkommen.

„Ja, der einzigste Josef in ganz Mauretanien. So wie wenn du der einzigste Finn in ganz Deutschland wärst. Man konnte einen Brief adressieren mit Josef, Mauretanien. Und dieser Brief ist angekommen“, erklärt Opa Tore.

Ungläubig schütteln sowohl Lilli als auch Finn ihre Köpfe. Und freuen sich in- nerlich, dass sie Opa Tore bei einer seiner bunt ausgeschmückten Geschichten und Übertreibungen ertappt haben. Lassen es aber dabei, ohne weiter nachzuboh- ren. Wissend, dass Opa Tore schnell die Lust am Erklären verlieren würde. Er ver- stand das wieso WIESO nicht. Manches wäre halt einfach so. Ohne Wenn und Aber. Opa Tore konnte sich schnell mit so einem leicht beleidigten Gesichtsausdruck abwenden, so tun als ob es ihn nichts angehe um damit eine Sache für beendet zu er- klären. Oma Geli musste dann übernehmen, erklären und damit Opa Tore retten. Opa Tore „habe dann fertig“, wie Oma Geli dieses Situation mit einem Lachen beschreibt. Deshalb waren Finn und Lilli zufrieden, auch ohne alles bis ins letzte Detail zu wissen.

„Eine schöne Geschichte“, sagt Lilli. „Eine Geschichte eben“, meint Finn und greift ein weiteres Mal in die blecherne Keksdose.

Plötzlich hören sie das leise Knarren der Gartentüre am kleinen Häuschen in der Eisenbahner-Siedlung. Oma Gelis und Opa Tores Zuhause. Schritte auf den Steinplatten, die den Weg zur Eingangstüre ebnen, zwischen Blumenbeet und Garageneinfahrt. Ein Birnbaum zur Rechten. Fünf Treppenstufen bis zur Haustür, ge- schützt durch ein kleines Vordach aus Glas. Ein Zeigefinger sucht den Weg zur Haustürklingel. Rechteckig mit einem Runden Knopf. Weiss, etwas vergilbt. Nichts Besonderes. Das Namensschild unter einem durchsichtigen Plastikstreifen geschützt. Auf einem weißen Papier steht in schwarzer Schreibmaschinen-Schrift:

Angelika & Salvatore Palermo
Schön, dass Sie hier sind


Dann klingelt es an der Haustüre. Lilli, Finn, Oma Geli und Opa Tore schauen sich kurz an. Und etwas Neues beginnt.

Notiz am Rande

Weihnachten 2020 war geprägt von der Corona-Virus-Pandemie. Viele Weihnachtsgottesdienst wurden in anderer Form gefeiert oder aus Solidarität und/oder aus Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander abgesagt. Aus dem Projekt „Extrablatt für Weihnachten“ entstand die Idee für diese Geschichte. Die es sonst wohl nie gegeben hätte.

Nur so noch…

Der Autor (Achim) erzählte vor dreißig oder mehr Jahren in einer Garage seinen Freunden eine Geschichte. Die Garagentür weit geöffnet. Ein lauer Sommerabend. Getränke standen auf dem Tisch, dieser nackt ohne Tischtuch-Schickschnack. Die Sitzflächen harte Bierbänke mit grüner Metallunterkonstruktion. Anlehnen war nicht. Thees Uhlmann beschreibt in einem Buch „wie wichtig es wäre, sich ab und zu beim Aus- und Zusammenklappen die Finger darin zu verklemmen. Das mache nüchtern und demütig. Beides wichtige Gefühle“. Welch schöne Worte. Achim erzählte von Otto aus Ghana. Der einzigste Otto seines Landes. Bis zum heutigen Tage werden in diesem Freundeskreis blumige Geschichten mit der abschließen Redewendung „ein Otto“ abgestempelt. Hinterfragt wird nicht. Kein warum WARUM. Geschichten bleiben so in der Weite des Raumes und des eigenen Vorstellungsvermögens.

Um es mit Tore zu sagen: „Zähne putzen, Salve Gente!“


(Zitat aus Thees Ullmann: Die Toten Hosen, KiWi-Musikbibliothek)

Tore, Maria und Josef Teil 6 Tore, Maria und Josef

Geschrieben für den Gemeindebrief der Evangelisch-methodistischen-Kirche in Marbach/Neckar. Weihnachten 2020.
  1. Tore, Maria und Josef Teil 6
  2. Tore, Maria und Josef Teil 5
  3. Tore, Maria und Josef Teil 4
  4. Tore, Maria und Josef Teil 3
  5. Tore, Maria und Josef Teil 2

Tore, Maria und Josef _ V

Veröffentlicht in 26. Dezember 2020

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen

„Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde. Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen. Die Hirten kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war“.
Mucksmäuschenstill verfolgten Lilli, Finn und Opa Tore Wort für Wort. Es war ruhig im Wohnzimmer als Oma Geli die Bibel zu Seite legte. Oma Geli hatte auf Wunsch von Lilli nochmals mit dem Lesen der Weihnachtsgeschichte begonnen. Um die Stille und die dicke Träne zu überwinden.
„Ja, ich wolle nach Bethlehem. Sagte das zumindest“, sagte Oma Geli die Geschichte mit fester Stimme weitererzählend. „Eigentlich wusste ich nicht was ich wollte. Nur unterwegs sein. An einem Weihnachtsabend der mir total egal war. X-beliebig. Ein Tag wie andere Tage auch. Nur menschenleer. Leerer. Mir war nach Abenteuer. Offen und hoffend auf Fröhlichkeit. Suchend was diese SO HEILIGE NACHT mir bringen würde“.
„Hä?“, fragte Lilli. „ Du warst Maria, Oma Geli“?
„Eine Weihnachtsgeschichte“, sagte Oma Geli zu Lilli gewandt, „braucht keine Maria um eine solche zu sein“ und erzählte weiter. „Schon von weitem hörte ich eine männliche Stimme fröhlich pfeifend durch die Gänge wandelnd. Immer lauter werdend. Fast schon tanzend. In schicker Schaffner-Uniform. Ich kramte die Fahrkarte aus meiner Tasche. Aufrecht stand er vor mir und sagte „Schön, dass Sie hier sind“, in sagen wir mal deutsch mit Akzent. Und „Wohin des Weges?“
Ich wollte den Mann mit seinem Lächeln nicht bloßstellen. Wenn aber fröhlich auf Fröhlichkeit trifft, dann geschehen besondere Dinge.
Ich sagte „Nach Bethlehem“. Dachte mir, zu Weihnachten darf man aus dem Normalen ausbrechen und den Gegenüber mit etwas Überraschendem konfrontieren. Was anderes fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Er murmelte leise „Bethlehem“?
Ich sah, wie der Schaffner schluckte. Hatte er sich doch Wort- und Satzbausteine für seine kleine Welt des Schaffner-Seins zusammengefügt. Und darin kam Bethlehem beim besten Willen nicht vor. Jedenfalls nicht zwischen Nürnberg und Crailsheim.“
Dabei kannte er sie alle. Angeeignet und auswendig gelernt. Alle Orte. Alle Zwischenhalte. Ja selbst deren anliegende Ortschaften, wie zum Beispiel Oberdallersbach. Unbekannter Weise. Umsteigen in Dombühl. In den Pausen in muffigen Bahnhofsräumen bei löslichem Kaffee eingetragen in das kleine Notizbuch. Nur Bethlehem?
Finn und Lilli konnten das Arbeiten der Gehirnknochen ahnen und sich die Geräusche vorstellen.
„Den Blick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. So eine Mischung aus Weiß-Nicht, Treu-Doof, Verzweiflung, Stoppstelle. Oder in Opa Tores später angeeigneter Eisenbahner-Sprache Endgleis und Prellbock. Und trotzdem so eine gefühlte Allwissenheit ausstrahlend. Null Problemo. Alles-unter-Kontrolle-habend“, lachte Oma Geli.
Opa Tore fand’s nicht ganz so lustig, lächelte aber gnädig und schwieg genießerisch in seinem Ohrenbackensessel vor sich. Dankbar, dass Oma Geli die Erzählung übernahm, ohne dass er sie dazu hatte bitten müssen. Sie hat so ein feinfühliges Gespür für die Situation, was er sehr an ihr schätzte. Von Anfang an.
Während der Regio 90 stetig in Richtung Crailsheim fuhr, blieb die Welt für einen kurzen Moment stehen. Um sich dann weiterzudrehen. Und zwar genau in dem Moment als Walter Mörskemper den Gang entlang kam. Opa Tore war an diesem Abend erstmals der Schnellere. Walter Mörskemper also etwas später in der Zugmitte.
„So, sie wollen also nach Bethlehem?“ Walter Mörskemper quittierte die Frage mit einem Lächeln „Wer will das nicht in der Heiligen Nacht“. „Die Hirten, die Heiligen Drei Könige… wären Sie mit der Eisenbahn gefahren, wären sie pünktlich in Bethlehem angekommen“. „Wäre, Wäre,“ entgegnete Oma Geli lachend, „Sie wären vermutlich niemals oder erst im nächsten Jahr angekommen“. „Was sie dann trotzdem sind. Verspätet. Auch ohne die Eisenbahn“, fügte Walter hinzu. Nicht genau wissend, ob das der Reihenfolge an der Krippe auch entsprach.
Hilfs-Schaffner Tore verstand kein Wort. Bahnhof. Heilige Drei Könige. Und blickte mit seinen funkelnden Augen drein (die Reisende beobachtete genau!), wie ein Elefant im Porzellan-Laden. Konnte nicht mal, wie Maria in der Weihnachtsgeschichte, diese Worte in seinem Herzen bewahren. Zu laut. Zu schnell. Zu fremd. War immer wieder kurz davor, sich mit einem Bleistift Notizen in sein Büchlein zu schreiben, um das Gehörte ein andermal verwenden zu können. Eine Taktik, die bisher aufging und ihm Sicherheit im Umgang mit Menschen gab. Hier nicht.
„Setzt dich mal hin Tore“, sagte Walter Mörskemper. Opa Tore und Walter setzten sich zu der Reisenden, also zu Oma Geli. Und erklärten Opa Tore, was bisher geschah. Besser sie versuchten es zu erklären.
Opa Tore hörte zu mit so einem knitzen Lächeln des „Alles-In-Ordnung“ und „Ah“ und „Oh“ und „Capito“. Mamma und Mia. Den beiden anderen glauben machend, dass er alles begriffen habe. Lachend mit viel Gestik. Ohne wirklich etwas kapiert zu haben.
Während Oma Geli im Erzählen zu Höchstform auflief, saß Opa Tore schweigend und genießend in seinem Ohrenbackensessel. Erinnerte sich an jenen Abend, der sein Leben veränderte. Diesen für ihn zum Ewigen Heiligen Abend machte.
Walter Mörskemper stieg in Crailsheim aus. Seinem ursprünglichen Plan entsprechend. Ging heim zu seiner Familie und später in den Gottesdienst.
Die Reisende und der Hilfs-Schaffner fuhren die Strecke Crailsheim Nürnberg und Nürnberg Crailsheim noch mehrmals. Erzählten sich die Geschichten ihres Lebens. Mit Händen, Bewegungen und einfachen Worten umfuhren sie fehlende Sprachkenntnisse geschickt. Erst nach dem letzten Zug trennten sich ihre Wege. Für einen kurzen Zeitraum zwischen den Jahren.

Teil 6

>> hier gehts zur Audiodatei zum Anhören bei Podigee. Gelesen von Joanna.

Tore, Maria und Josef _ IV

Veröffentlicht in 24. Dezember 2020

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen // Teil 4

Für Opa Tore wird es ein besonderer Tag werden. Seit langer Zeit wieder auf den geliebten Gleisen unterwegs zu sein. Schon früh am Morgen bemerkte Oma Geli seine fröhliche Grundstimmung. Nein, Opa Tore war kein Morgenmuffel. Aber so fröhlich „La-Paloma-pfeifend“ eben auch nicht.
Eine Redewendung die Opa Tore immer wieder, auf das Thema angesprochen, betonte. Hintergrund war eine in die Jahre gekommene Rasierwasser-Werbung.

Fröhlichkeit war ein Markenzeichen von Josef. Mit einem Lächeln war er in den Gängen des Region 90 unterwegs. Anfänglich Opa Tore zuschauend.
Es gab noch keine elektronischen Apps. Tickets hießen noch Fahrkarten. Hergestellt aus einem etwas festeren Papier in der Größe einer Tafel Schokolade. Mit einer Zange wurde eine Nummer und das Datum aufgedruckt und damit die Fahrkarte entwertet.
In Regionalzügen sind weniger Reisende unterwegs. Mehr Pendler die zur Arbeit fahren. Und Ausflügler aus der Region, die in diesen Tagen den Christkindlesmarkt in Nürnberg besuchten.
Ein Schaffner war immer einem bestimmten Zug zugeteilt. Und so waren Josef und Opa Tore mehrfach am Tag auf der Strecke Crailsheim – Nürnberg unterwegs.
Mit „Schön, dass Sie hier sind“, eröffnete Josef jedes Gespräch mit den Fahrgästen. Unkonventionell. Josef erntete ein Lächeln bei den Menschen. Und nur wenige schauten mürrisch oder in Gedanken versunken in ihre Tageszeitung oder aus dem Fenster. „Schön, naja … ich könnte mir einen schöneren Ort als hier im Zug vorstellen“, sagte ein Gast mit einem Lächeln. Meist ist der Kontakt von kurzer Dauer.
Bei aufkommenden Fragen war Opa Tore da und unterstützte Josef. Dieser war wissbegierig und lernte schnell die einfachen Dinge des Schaffner-Seins. Verkaufte am zweiten Tag bereits die ersten Fahrkarten. Das war damals noch gegen einen kleinen Aufpreis möglich. Kontrollierte selbständig – mit Opa Tore im Hintergrund. Am dritten Tag wurde er von den ersten Pendlern mit „Herr Josef“ begrüßt. Am vierten Tag begann Opa Tore im ersten Wagen. Josef im Letzten. Sie trafen sich in der Mitte. Es entwickelte sich ein kleiner Wettbewerb, wer schneller über der Zugmitte hinaus wäre.
Sie tranken löslichen Kaffee in den muffigen Bahnhofsräumen. Erzählten sich ihre Geschichten. Aus morgens wurde abends. Aus Mittwoch Donnerstag. Freitag und Samstag und Montag.

Josef’s Heimatland war Mauretanien. Da er in seinem Heimatland keine Perspektive für sich sah, machte er sich auf den Weg in ein fremdes Land, um Arbeit zu finden. Eine harte Zeit. Fern der Heimat. Einsamkeit. Einzig seine ihm geschenkte Fröhlichkeit bewahrte er sich. Als Schutz, sein Leben bewältigen zu können.

„In drei Tagen ist Weihnachten“ sagte Opa Tore und fragte weiter „Was wirst du machen, Josef?“.
„Ich habe es nicht so mit Weihnachten“, antwortete Josef. „Im letzten Jahr habe er gearbeitet. Im Jahr zuvor – weiß nicht mehr“.
Für Opa Tore schwer begreiflich, war doch Weihnachten für ihn immer ein besonderes Fest. Beginnend mit der Weihnachtsgeschichte, den Weihnachtsliedern, wie auch das Feiern mit der Familie. Bis auf ein einziges Mal, das sein Leben veränderte.

„Fahren wir am Donnerstag, dem Heiligen Abend noch eine Tour?“ fragte Josef bittend Opa Tore, „Das wäre für mich Weihnachten“. Wohl wissend, dass die Probewoche dann um einen Tag verlängert würde. Wissend auch, dass er von Opa Tore noch mehr abverlangen würde.

Opa Tore wollte am Heiligen Abend zuhause sein. Das wusste Josef. Einer Tradition folgend, geht die Familie dann gemeinsam zur Christvesper, dem Gottesdienst am Heiligen Abend.

„Wir fahren noch den Sechzehn-Achtunddreißig von Nürnberg nach Crailsheim. Dann ist Feier- ähhh Heiliger Abend“, sagte Opa Tore und wusste, dass er damit sein erstes Weihnachtsgeschenk verteilt hatte. Er habe es bereits mit Walter Mörskemper abgeklärt, fügte Opa Tore ordnungshalber noch hinzu.

Mit dem „Sechzehn-Achtunddreißig“ meinte Opa Tore den Zug mit Abfahrt 16 Uhr 38 in Nürnberg Hauptbahnhof. Fahrzeit eine Stunde. Ankunft 17 Uhr 38. Dann schnell nach Hause. Umziehen und ohne Hetze und Eile mit Geli das Weihnachtsfest einläuten. Das war Opa Tores Plan für den Heiligen Abend.

16 Uhr 38. Die Scheinwerfer erhellten das Gewölbe des Nürnberger Bahnhofes. 24. Dezember. Heiliger Abend. „Viiiieeeel weniger Menschen tummelten sich auf den Bahnsteigen“, erzählte Opa Tore weiter.
Der Lokomotivführer kündigte mit einem Pfiff die Abfahrt des Zuges an. Josef hinten. Opa Tore vorne. Schnell arbeiteten sich die Beiden durch die spärlich gefüllten Zugwaggons. Wer ist jetzt schon noch unterwegs? An den Haltestellen stiegen kaum weitere Menschen zu. Und es schien eine letzte Fahrt ohne Besonderheiten zu werden.

Wagentyp Silberlinge. Ungefähr in der Zugmitte saß noch eine Person. Opa Tore und Josef kamen ziemlich gleichzeitig bei ihr an. Die Sitze in den Waggons sind quer zur Fahrrichtung ausgerichtet. Dunkelrotes Lederimitat. Gepäckablagen aus grün-gold schimmerndem Metall trennen die Sitzgruppen optisch voneinander.
Immer wieder streute Opa Tore kleine Details seiner Zugkenntnisse in Geschichten ein. Unwesentlich für den Verlauf der Geschichte. Wesentlich, um sein Wissen zu teilen.

Eine junge Frau unterwegs zu ungewöhnlicher Uhrzeit an einem alles andere als gewöhnlichen Tag. Nichtsdestotrotz sagte Josef „Schön, dass Sie hier sind“. Wie immer in seinem fröhlichen Wesen und fragte die Reisende „Wohin des Weges?“ „Nach Bethlehem!“, antwortete diese mit einem Lächeln und hielt Josef die Fahrkarte zur Kontrolle hin.

Opa Tora atmete tief, räusperte sich kurz und nahm einen kräftigen Schluck ungesüßten Kräutertee aus der Porzellantasse.

„Bethlehem?“ murmelte Walter Mörskemper leise. Kaum hörbar. Während Opa Tore in seiner Erzählung innehielt.

Eine merkwürdige Stille der offenen Fragen füllte das Wohnzimmer. Josef? Walter? Die Reisende? War dies Maria? Knisternd. Lilli und Finn schauten gleichzeitig zu ihrem Opa Tore. Der tief in seinen Ohrenbackensessel zurückgelehnt saß. Fast schon versunken in ihm. Während eine dicke Träne auf seiner rechten Wange ihren Weg suchte.

Teil 5

>> hier gehts zur Audiodatei zum Anhören bei Podigee. Gelesen von Joanna.

Tore, Maria und Josef _ III

Veröffentlicht in 19. Dezember 2020

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen // Teil 3

Der Bahnhofsvorplatz in Crailsheim ist um diese Uhrzeit erstaunlich menschenleer. Die wenigen Menschen hetzen dick eingepackt in Richtung der Bahnsteige und zu den Bussen. Ein kühler Dezembermorgen. Die große runde beleuchtete Bahnhofsuhr ist Tempogeberin für die Menschen. Ein kleiner Blick und der Gang wird schneller oder langsamer, hektischer oder gemütlicher.
Tore blickte abwechselnd auf die Bahnhofsuhr und auf seine Armbanduhr an seinem linken Handgelenk. Ein Geschenk seines Vaters. Eine alte Gewohnheit.
Und sah immer wieder fasziniert, wie der Sekundenzeiger der großen Bahnhofsuhr zur vollen Minute kurz innehält.
„Dies bringt Ruhe in die letzte Minute und erleichtert die pünktliche Zugabfertigung“, sagte Opa Tore zu Finn und Lilli. „Der Sekundenzeiger läuft etwas zu schnell, so dass er zu jeder vollen Minute ca. 1,5 Sekunden stehenbleibt“.
Opa Tore freute sich sein Wissen teilen zu können. So ein typisches Opa-Wissen über kleine, feine, unnütze und trotzdem wichtige Dinge fürs Leben.
Wieder und wieder schaute Tore auf seine beiden Uhren. Fast ungeduldig.
07 Uhr 20. 07 Uhr 21. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig.
Plötzlich war er da. Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya. Wie vom Himmel gefallen. Tore hat ihn nicht kommen sehen, obwohl er meinte alles im Blick zu haben. Mit einem fröhlichen „Guten Morgen. Schön sie zu sehen, Herr…“.
„…Tore, wir Eisenbahner duzen uns. Nennen uns beim Vornamen“, erwiderte Opa Tore nicht ganz so euphorisch wie Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya. Aber liebevoll, mit so einem gutmütigen Opa-Lächeln.
„Was ich zum damaligen Zeitpunkt natürlich noch nicht war, nicht mal davon träumte“, schob Opa Tore seiner Geschichte hinterher. Ist er doch beinahe in seiner Erzählung in das Jetzt und Heute verrutscht.
„Josef“ sagte Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya.
„Josef?“, fragte Opa Tore ganz erstaunt.
Die beiden standen sich immer noch in der Dezemberkälte von Crailsheims Bahnhof gegenüber. „Komm herein in die gute Stube, Jooosseefff“ – er betonte es, wie wenn Finns Mama „Fiiiiinnnnnnnnn“ ruft, um ihn schnellstmöglich nach Hause zu bekommen.
Tore und Josef betraten den kleinen Personalraum. In jedem Bahnhof gibt es den. Ausgestattet mit keinerlei Luxus. Nur auf das Notwendigste begrenzt, damit Eisenbahner in jedem Bahnhof der Welt eine kleine Heimat finden. Es muffelte etwas, nach trockener Wärme und Menschenschweiß. Das Öffnen der Fenster zum Lüften schien in Vergessenheit geraten zu sein.
„Kaffee?“
„Gerne“.
Opa Tore entnahm jeweils einen Löffel eines löslichen Kaffeepulvers aus der Verpackung, leerte dieses in eine Porzellantasse und goss heißes Wasser darüber.
„Danke. So ein warmer Kaffee tut gut“ sagte Maurice oder Josef, wie auch immer jetzt sein Name war. Und hielt mit beiden Händen die Tasse umschlungen, um sie zu wärmen. Das hat die Wichtigkeit, wie das Trinken selber. Wärme für innen und außen.
Opa Tore telefonierte kurz mit Walter Mörskemper und informierte ihn, dass der Neue da wäre. Es war still im Raum, einzig die einzelnen Anschläge der Schreibmaschine durchbrachen diese. Opa Tore tippte im Ein-Finger-System das Namensschild, das sich jeder Schaffner an der Uniform zu befestigen hat. Häufig der Grund dafür, dass sich unzufriedene Bahnreisende lauthals namentlich über Schaffner beschweren können.
Da Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya deutlich zu lang war, tippte Opa Tore die einzelnen Buchstaben J O S E F für Josef auf das kleine Papierkärtchen, das dann in ein metallenes Namensschild eingeschoben wurde. Eine Sorge weniger. Selbst Oma Geli hatte er in seine Gedanken eingeweiht. Hatte sich doch Opa Tore tagelang überlegt, wie er Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya hätte kürzen können damit der Name auf das Schildchen passte.
Es ist gut, dass sich manche Dinge von selbst erledigen, dachte Opa Tore dankbar über seine Gehirnanstrengungen nach.
Opa Tore erklärte Josef die heutigen Aufgaben. Josef hörte andächtig zu. Fragte dies und das und sogar jenes. Und Opa Tore hatte immer eine Antwort parat. Die beiden waren so geschäftig, dass Opa Tore sich keine Gedanken mehr darüber machte, wie es zu dem Namenswechsel Maurice zu Josef und umgekehrt kam.
Kurz vor viertel-nach-zehn standen Tore und Josef am Bahnsteig um auf den Regio 90 nach Nürnberg zu warten. Pünktlich fuhr die dunkelrote Diesellokomotive in den Bahnhof ein.

Teil 4

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Tore, Maria und Josef _ II

Veröffentlicht in 15. Dezember 2020

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen // Teil 2

Opa Tore schnäuzte sich die Nase. Es war kein einfaches Schnäuzen. Opa Tore zelebriert es. Sehr zum Ärger von Oma Geli. Es klingt wie wenn die Tuba im Posaunenchor neben dem üblichen Brum-Brum-Basston zu einem Solo ansetzt und im Gesang der Trompeten endet. In der Lautstärke, dass die Vasen aus Keramik auf der Fensterbank zu vibrieren beginnen.

„Josef“ stand plötzlich vor der Bürotür von Opa Tore.

Die Beine haben nicht mehr mitgemacht, deshalb war Opa Tore nach vielen Jahren als Schaffner in den Innendienst versetzt worden. 

„Ich möchte Schaffner werden“, sagte er zu Opa Tore – mit einem Strahlen im Gesicht, das an ein Kind erinnert, das auf den Kuchen noch einen Löffel frisch geschlagene Sahne bekommt. Josef legte seinen Reisepass auf den Tisch. „Die Bewerbungsunterlagen.“ 

Opa Tore setzte seine Lesebrille auf. Während er den dunkelblauen Pass öffnete, saß Josef ihm gegenüber. Mit einem Strahlen im Gesicht. Einem Strahlen, das selbst auf dem Passbild erkennbar war. Einer Vorschriften entsprechend, soll das Passbild biometrisch sein. Da ist ein Strahlen nicht vorgesehen. Nicht so bei Josef.

„Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya“ murmelte Opa Tore vor sind hin, den Familiennamen ablesend.

„Wie hieß der“, fragte Finn nach. „Maurice“ die superschlaue Lilli. „Ich meine mit dem Familiennamen“. Finn bemerkte wie Opa Tore große Mühe mit dem Aussprechen dieses zungenbrechenden Familiennamens hat.

Ähmmm, „Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya“ und Opa Tore dachte dabei schon an das Namensschild das jeden Schaffner schmückt und von unglaublicher Länge sein musste.

„Wieso wollen Sie Schaffner werden?“, ein Beruf der in den letzten Jahren aufgrund der Automaten und Apps etwas in Vergessenheit geraten ist. „Ich möchte Menschen helfen, ihren Weg, ihre Verbindung zu finden.“ Im ersten Moment dachte Opa Tore: was für ein Vogel. Wenn Menschen an ein Gespräch mit Schaffnern denken, fällt ihnen als Erstes „Ihre Fahrkarte bitte“ ein.

Opa Tore erzählte in blumiger Sprache von der Schaffner-Romantik und erklärte den Weg der Berufsausbildung. Die Beiden klärten dies und das und am Ende schlug Opa Tore dem Herrn Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya ein einwöchiges Praktikum vor. Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya sagte ohne mit den Wimpern zu zucken zu. „Ich melde mich schnellstmöglich wegen dem Termin bei Ihnen“.

Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya verabschiedete sich von Opa Tore mit einem noch fröhlicheren Lächeln. „Ich dachte schon, jetzt will er mich umarmen“. Eine Geste die in der damaligen Zeit völlig unmöglich gewesen wäre. 

Opa Tore musste nun unbedingt zu Walter Mörskemper. Er wollte Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya nämlich während dieses Praktikums begleiten. Und Walter Mörskemper, als Ausbildungsleiter, musste Opa Tores Plan zustimmen. Mal wieder raus in den Zug zu den Menschen, darauf hatte Opa Tore gehofft.

„Opa Tore, die Geschichte ist völlig unlogisch“ sagte Finn, während Oma Geli eine frische Kanne honiggesüßten Kräutertee auf den Tisch stellte. „Josef, Maurice – was denn nun?“ 

„Geduld, meine Lieben“. Er streckte sich kurz, die Arme weit ausbreitend, in seinem Backensessel.

Es gibt für einen Erzähler nichts schöneres als solche Fragen. Die Ungeduld und die Neugierde steht den Zuhörenden ins Gesicht geschrieben. Eine Geschichte, die in den Bann zieht. Und es kommt nicht selten vor, dass sich Erzähler so in die Geschichte hineinsteigern, dass sie selbst zum Teil dieser werden. Opa Tore sah in seinen Gedanken Finn und Lilli schon im Zugabteil sitzen und Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya die Beiden „Ihre Fahrkarten bitte!“ fragen.

„Bist du dir sicher Tore?“, als Opa Tore Walter Mörskemper in seine Pläne einweihte. Opa Tore und Mörskemper kannten sich seit gefühlt hundert Jahren. Unter Kollegen spricht man selten von Freundschaft. Opa Tore und Walter aber waren Freunde. „Walter, ich weiß, es ist nicht der übliche Weg. Aber irgendwie habe ich da ein besonderes Gefühl“. „Wenn du meinst“ meinte Walter Mörskemper weiter, aber „deine und unsere Arbeit darf nicht darunter leiden“. Es waren gut gemeinte Worte. Mörskemper vertraute Opa Tore. Er trug schon den einen oder anderen Alleingang von Opa Tore mit. 

Opa Tore nahm sein Diensttelefon in die Hand und wählte die Nummer von Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya. „Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya, wir treffen uns am Mittwoch, den 16. Dezember. 7 Uhr 30 am Personaleingang vom Bahnhof in Crailsheim. Wir fahren dann um 10:20 mit der Regio 90 nach Nürnberg“. Um der Ansage mehr Bedeutung hinzuzufügen, sagte Opa Tore „Bitte pünktlich sein!“.

Dass die Eisenbahn nach dem Volksmund eher unpünktlich ist, ärgerte Opa Tore schon immer. Es sind die äußeren Umstände, nicht wir Menschen die bei Zeitverzögerungen Ausschlag gebend sind.

Opa Tore hält kurz inne. Trinkt einen kräftigen Schluck Kräutertee und greift in die Dose mit dem Weihnachtsgebäck. 

Etwas früher, bereits um viertel nach sieben stand Opa Tore vor dem Personaleingang. Ein kühler Morgen. So ein typischer Dezembertag. In seinem schicken Schaffner-Anzug, den Oma Geli so an ihm liebte. „Schicke Männer tragen Uniform“ so Oma Geli. „Es waren andere Zeiten als heute“. Opa Tore wartete auf Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya. 

Wird er da sein? Wie wird der Tag werden? Wird es ein Fiasko werden? Wird die Freundschaft zwischen Walter und Opa Tore diese Tage überleben?

Teil 3

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Tore, Maria und Josef _ I

Veröffentlicht in 13. Dezember 2020

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen // Teil 1

„Und Maria wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe. Denn sie hatten sonst keinen Platz in der Unterkunft gefunden“ äfft Finn seine Oma Geli nach. Omas Stimme kann Finn so gut nachmachen, dass selbst seine Mutter einmal hereingefallen ist. „Ist doch immer die gleiche Leier, Oma“. „Ja“, meint selbst Lilli. Und Lilli ist Oma-Fan. Lilli liebt es wenn Oma Geli Geschichten vorliest. Mit ihren fünf Jahren klar. Vermutlich sind alle Fünfjährigen Oma-Fans. Und natürlich auch Opa-Fans. Doch Opa Tore ist kein Vorleser. Er bringt es nicht übers Herz, immer dieselben Geschichten zigmal vorzulesen: eben das, was Finn bemängelt. Inkonsequent, weil Finn das Buch der Maulwürfe mehr als auswendig konnte und Opa trotzdem immer und immer wieder die Stelle, als der Maulwurf mit dem Specht Freundschaft schloss, vorlesen musste. Bis es Opa Tore irgendwann zu bunt wurde (dabei war es nicht einmal ein bunt-Specht). Opa Tore klagte über schlechtes Sehen und war raus aus der Vorlesenummer. Oma Geli ihrerseits liebt es. Win-Win-Situation wie man heute so gerne dazu sagt.

„Na gut“, sagt Oma Geli und schlägt das Lukas-Evangelium zu. Eigentlich schließt sie die Bibel. Aber es ist die Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2. Naja – so Pfarrer-Gedöns halt.

„Und jetzt?“ fragt Lilli enttäuscht. „War’s das für heute?“ Es ist kurz ganz still im Raum. Selbst Opa Tore schaut aus seinem Sessel auf. Oma stellt die alte Familienbibel zurück in das Bücherregal. 

„Die Weihnachtsgeschichte gehört zu Weihnachten. Man kann sie ruhig immer wieder, Jahr für Jahr lesen“ sagt Oma, gütig wie Omas eben sind, und fängt die knisternde Stille mit „es gibt noch Zimtsterne“ auf. „Oh fein“, sagt Lilli und auch Finn greift in die tiefe Steinschale gefüllt mit allerlei Gebäck. Eines besser als das andere. 

„Ich hatte mal einen Kollegen, der hieß Josef“, sagt plötzlich Opa Tore aus seinem Backensessel heraus. Backensessel, auch Ohrenbackensessel genannt, haben höhere Rückenlehnen mit flügelartigen Backen am oberen Ende. Das entspannt Kopf, Schulter und Nacken beim Sitzen – und ist bestens geeignet für ein Nickerchen – zu jeder Tages- und Abendzeit. „Josef stammte ursprünglich aus Mauretanien. Irgendwo in Afrika. Josef war schwarz wie die Nacht“. „Opa Tore“ raunt Finn ihn an, „so was sagt man heute nicht mehr“. „Er war aber schwarz und das ist auch nicht böse gemeint“, rechtfertigt sich Opa Tore aus seinem Sessel heraus.

„Und jetzt rate mal, wie Josefs Ehefrau hieß?“ fragte Opa. Und bevor Finn, Lilli oder Oma Geli antworten konnten: „MARIA -, ja die hieß tatsächlich Maria“ und lacht dabei. „Maria, ja Maria“, Opa Tore wiederholt sich gerne so, als ob er nicht gehört wurde. Oder er betont es als Verstärker, was für ein Wortspiel ihm gelungen ist. „Wie Maria und Josef in der Weihnachtsgeschichte“, strahlte Lilli über das ganze Gesicht. „Ja Lilli“, sagt Finn und macht dabei seine Stimme um zwei Jahre jünger. Er will Lilli als kleine Schlaumeierin darstellen. Was Lilli natürlich auch ist. Etwas, was Finn hin und wieder ärgert und es deshalb auch kleine Reibereien gibt.

„Und das kam so“ geht Opa Tore dazwischen, bevor Lilli was erwidern kann. Kurz hält er inne, um sich mit einem Taschentuch aus Baumwolle die Nase zu schnäuzen.

Teil 2

>> hier gehts zur Audiodatei zum Anhören bei Podigee. Gelesen von Joanna.

Das 0 6 Desaster.1

Veröffentlicht in 5. Dezember 2020

Knowledge

Unlängst verlor Deutschland im Fußball null zu sechs gegen Spanien. Ein Desaster. Und wie Phönix einst der Asche entstieg, alle wieder da. Wie im Frühling die Vögel. Millionen von Bundestrainern. Jede:r weiß viel – nahezu alles. Auf jeden Fall alles besser als Joachim Löw. Der vertragsmäßig der Bundestrainer ist. Erfolgreich und geliebt bei Siegen. Aus unserem Jogi wird Joachim. Klingt fremdlich, wie wenn Mutter ihren Jungen abends von der Straße ruft. Dieser verwirkt. Am Ende? Austauschen? Namen werden gehandelt. Wie ein Lauffeuer verbreitet, obwohl bei den Stammtischen dieser Welt Pandemie bedingt der Zapfhahn still gelegt ist. Soziale Medien ersetzen dieses Urgestein der manchmal einfachen und deftigen Sprache. Ohne Bier. Dieses fehlt um die Bitternis zu filtern. Der Stammtisch auch. Danach ist wohler. Nicht umsonst prosten Menschen sich „zum Wohle“ zu.

Ich war kein besonders guter Schüler. Aus der Not den naturwissenschaftlichen Zug gewählt. Mit Physik, Chemie und Biologie. Und mehr Mathe. Immer in der letzten Stunde. 45 Minuten. Wie auf den Bus warten. Vermutlich war es nicht richtig, Aber alternativlos. Der fremdsprachliche Zug mit englisch, französisch und lateinisch , später spanisch…. lassen wir das. Ein Desaster.

In den letzten Tage las ich mehrfach Meldungen, dass ein Impfstoff zur Abwehr des Covid19-Virus gefunden wäre. Ein Durchbruch.
Für manche Menschen Hoffnung. Manche Menschen meinen ein weiteres Desaster verfehlter Politik, Freiheitsberaubung und staatlich gewollter Bevormundung.
DNA. mRNA. Es wird von Rolling-View-Verfahren gesprochen. mRNA steht für Messenger-Ribonukleinsäure. In meinem Leben noch nie gehört. Bin ich allein?
Menschen fachsimpeln. Wissen gefühlt über Nebenwirkungen alles. Die Molekularstruktur. Die Art der Lagerung. Transport. Wirkungsgrad und notwendige Menge für’n Durchschnittsmenschen. Woher?
Bier hat übrigens auch Nebenwirkungen und sollte am besten kühl gelagert und konsumiert werden. Aber nicht zu kühl sonst gilt es stauchen (für die Bier-Gegner:innen und Unwissenden: erwärmen z.B. das gefüllte Bierglas in richtiger Dosis in Warmwasser stellen. Nur kurz, sonst ist das Bier schal!).

Und ich denke LEUTE WOW. Wie klug. Was’n Wissen. Gefühlt klüger oder mindest wie die Personen, die sich seit Jahren damit beschäftigen. Womöglich ein abgeschlossenes Studium haben. Anlesen. YouTube-Video infiltrieren. Apropos Video, schon hilfreich. Ohne hätte ich diesen Sommer mein Fahrrad nicht zusammenbauen können. Aber Wissenschaft. Verständlich machen?
Nein – ich will niemand verunglimpfen. Steckt impfen drin. Jede:r blamiert sich auf seine Art und Weise.
Mein schulisches Restwissen reicht kaum kluge Inhalte zu einer Konversation über das Paarungsverhalten von Eichhörnchen beizutragen. Geschweige über mögliche Konsequenzen dessen. Normale Schwangerschaft? Nest? Schlüpfen gar aus Eiern die jungen Dinger. Keine Ahnung.
Auch nicht von DNA. Nicht von mRNA. Bin ich Außenseiter im weiten Feld der Bundesvirolog:innen? OK, ich könnte youtuben.

Ganz ehrlich – ist mir JUCKE.
DENN: Ich habe Vertrauen in die, die es besser wissen. An die Wissenschaftler:innen. Die Politiker:innen. Und an den Bundestrainer. Warum? Sie wissen etwas was ich nicht weiß – nämlich mehr.

Anmerkung 06.12.2020

In einem lesenswerten Artikel der Süddeutschen Zeitung „Wie man Besserwisser zum Schweigen bringt“ vergleicht der Autor Sebastian Herrmann ebenso Hobby-Virologen mit den paar Millionen Bundestrainern. Mein SeiterBlick und dieser Artikel sind unabhängig – denke ich ;-) – voneinander entstanden. Einen Satz möchte ich gerne zitieren „Das ist der ganze Jammer: Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten sind voller Zweifel“. Dieser Satz wird dem britischen Philosophen Bertrand Russell nachgesagt.

Arizona

Veröffentlicht in 29. Oktober 2020

Herbst. Ich trage wieder Birkenstock’s an meinen Füßen. Ist Füße richtig? In der schwäbischen Sprache verwendet man Worte gelegentlich in einer anderen Form, die für Missverständnisse sorgen kann. Gilt nicht wenn sich nur Schwäbinnen und Schwaben unterhalten sollten.

Also Schuhe. Von Birkenstock. Mal wieder? Über Jahre hinweg hatte ich genug davon. Nicht in der Menge. Es war nicht die Zeit. Es war nicht mehr meine Zeit diese Art von Schuhen zu tragen. Abstoßen, das was für viele Jugendjahre „State-of-Art“ war. Ob geschlossen. Mit Riemen. Eins, zwei oder dreien. Hinten geschlossen oder offen. Breit schmal. Leder Filz. Arizona oder Boston. Wie sie heute noch heißen.
Ich trug sie. Klar bequem. Aber es war so eine Ansage. Ein Lebensgefühl. Ein Statement. Hippiesandalen. Hinter einem Menschen mit liebevoll „Birkis“ genannt an den Füßen war ein gewisses Bild gemein. Gelassen. Eher christlich orientiert. Eher langweilig. Sexy-Faktor 0. Die Grünen wurden 1980 gegründet – was wurde davor gewählt?
Ich erinnere mich an Poster mit „Birkenstock-Business“ in Chef-Büros. Hier durften Menschen beim Eintritt auf eine Gütigkeit hoffen. Ich erinnere mich an einen Notar, der genau dieses Bild widerspiegelt, in seinem Chaosbüro voll mit Pflanzen, alten Schreibmaschinen und Modellautos. Trotzdem war ich gerne dort. Umgeben vom Charme der Gesundheitslatschen. Bis eines Tages auch der Notar, die dann den Markt beherrschende Crocs an den Füßen hatte. Kunststoffschuhe. Leuchtend bunt. Schnelltrocknend, wenn du durch den Matsch des Zeltplatzes schreitest. Eine kleine Welt bricht zusammen. Und ich wechsle auch das Schuhwerk.

Irgendwann verschwinden meine beiden Sandalenpaare – #1 mückenblutfarbiges Wildleder offen mit zwei Riemen und #2 geschlossen mit karamellbraunem Leder – im Nirwana des Schuhregals. Verstaubt. Zusammengefallen. Fristen beide ihr Dasein hinter Spinnweben und alten öligen Kartonagen. An eine Entsorgung nicht erinnernd. Und suchen? Ne. Ich vermisste, vermisse meine Birki’s nicht.

Die Wiedergeburt. Berühmte Menschen beginnen Birkenstock’s oder sagt man Birkenstöcke (?) zu tragen. Eine Schauspielerin sogar bei der Oscar-Verleihung. SchwuppdiWupp von Hippie auf Hip.

Mhhh…. ne. Nicht auf jeden Zug aufspringen. Auf einmal wieder mit Birki’s auftauchen. Ne. Auch nicht mein Ding.

Es vergehen weitere Jahre. Bis meine Blicke auf eine Limited Edition (das fieseste was Industrie machen kann um das muss-ich-haben-Gefühl zu erzeugen) mit einer farbig-auffallenden Sohle fallen. Oh. Schön. Es könnte mal wieder Zeit werden für Birkis, denke ich mir. Höchste. Und so unter uns – tragen tun sich die Dinger schon verdammt gut.

Jetzt wenn Winter kommt. Dicke Socken an. Füße hoch. Kerzenlicht, Kekse und warme Getränke. Es könnte gemütlich werden – in Arizona, äh mit.